
Corona – und? Wie sieht ihr Alltag aus? Das Highlight des Tages ist der Besuch beim Supermarkt? Wenn Sie zu den Privilegierteren gehören, der Spaziergang im Park? Oder sogar die Inline-Skate-Tour mit der Tochter? Auch wenn beim zufälligen Treffen von Freunden pingeligst darauf geachtet werden muss, dass der angemessene Abstand gewahrt wird, lassen sich doch noch meist Aktivitäten in den Alltag einplanen. Aber ja; Die Unternehmungen sind gemessen an dem, was wir gewöhnt sind, bescheiden. Es fühlt sich sehr dörflich an. Man fängt an, beinahe täglich mit dem Nachbarn ein Schwätzchen zu halten.
Ein dörfliches Leben. Wie ja wahrscheinlich auch alle mittlerweile schon mitgekriegt haben, freut sich das Klima im Hinblick auf unseren gesunkenen CO2-Ausstoß. Ich beschäftige mich schon sehr langem mit dem Klimaproblem und wurde gebeten, ein Interview zu geben zum Thema: ‚Corona und positive Perspektiven‘ (Podcast mit tagesschau-Moderator Michail Paweletz: ‚Der Corona-Virus und das menschliche Maß‘ https://www.buzzsprout.com/985933/3331285). Im ersten Moment verband ich es im Kopf natürlich mit gesunkenen Emissionen und dem trotzigen Gedanken: Ja, jetzt macht die Menschheit es endlich, jetzt versteht sie endlich. Das braucht es also, um uns als Individuen auf ein Niveau herunterzuschrauben, was wir eigentlich für ein genesendes Klima brauchen. Aber es muss aufoktroyiert werden.
Beim weiteren Nachdenken und auch mit der inneren Ruhe, die diese Situation mit sich bringt, fiel mir dazu mehr ein und eine ganz interessante Querverbindung zur Philosophie, meinem eigentlichen Fach.
In der Philosophie gibt es auch Gedanken dazu, was das Aufkommen der industriellen Technik mit uns macht. Natürlich bedenken diese Strömungen auch die damit einhergehende Naturzerstörung, aber es gibt auch eine Basis, die unsere grundlegende moralische Kapazität angeht.
Die beiden Philosophen, mit denen ich mich am meisten in diesem Zusammenhang beschäftigt habe, sind Hans Jonas und Niko Paech. Hans Jonas lebte von 1903 bis 1993 in Deutschland und im Ausland, v.a. den USA. Während seiner philosophischen Schaffensphase stellte er sich ethische Fragestellungen zum Verhältnis des Menschen zur Natur und seinen Umgang mit der Technik. Sein Hauptwerk ist ‚Das Prinzip Verantwortung‘, erschienen 1979, in dem er einen ‚ökologischen kategorischen Imperativ‘ formuliert: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (Jonas, H. (1979)).
Hans Jonas konstatiert, dass heutige globale Probleme herausfordernd sind, da sie nicht dem Umfang unserer ursprünglichen Moral entsprechen bzw. nicht dem Umfang, in dem wir es gewohnt sind, Probleme zu lösen. Unsere frühere Moral bezog sich auf einen engen Radius – auf direkte Handlungen, auf naheliegende räumliche und zeitliche Folgen, sie bezog sich auf den Mitmenschen. Über das Wissen, das dafür notwendig war, konnte (fast) jede/r verfügen. Die industrielle Revolution mit ihren wissenschaftlichen und technischen Erfindungen hat diesen Radius gesprengt, sowohl zeitlich als auch räumlich. Wir haben technische Hilfsmittel erfunden, die weit über das Maß hinausgehen, das uns unsere eigene Körperkraft erlauben würde. Sie erlauben uns in kurzer Zeit ein enormes Pensum an Arbeit zu erledigen wie z.B. in der Landwirtschaft, aber natürlich auch in der Industrie. Sie erlauben innerhalb kurzer Zeit so weit zu reisen, wie wir es mit unserer eigenen Körperkraft niemals bewerkstelligen könnten.
Gleichzeitig benötigen sie dafür (natürlich!) ein Vielfaches an Energie als das, was wir uns als Einzelperson eigentlich erlauben dürfte für die jeweilige Handlung (Wie aufwändig und wieviel Menschenkraft benötigte es, jedes Mal, dass man eine Kaffee trinken wollte, ein Feuer zu schüren und diesen dort zuzubereiten? Geschweige denn die Herstellung des Kaffeepulvers …?). Dieser starke Energieverbrauch macht sich bemerkbar, schürt den voranschreitenden Klimawandel und beginnt immer mehr Menschen und Dinge zu tangieren, die weit außerhalb unserer direkten Handlungen liegen. So schädigt ein emissionsintensiver Lebensstil der Menschen im Globalen Norden vor allem Menschen im Globalen Süden und nachfolgende Generationen. ‚Globaler Norden‘ bezeichnet hier Menschen in Ländern und Regionen, die im globalen Kontext in materiell und politisch privilegierten Situationen leben während ‚Globaler Süden‘ Menschen einschließt in Ländern und Regionen, die im globalen Kontext in materiell und politisch benachteiligten Situationen leben.
Es geht aber noch weiter; Wir wissen mittlerweile, dass unser Energieverbrauch durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe und damit die Generierung klimaschädlicher Gase als auch Naturvereinnahmung im weitesten Sinne als auch der Eintrag von Fremdstoffen die Natur als Ganzes verändert. Die Destruktion von Ökosystemen als auch Veränderung von natürlichen Klimabedingungen wirkt sich auf die Lebensgrundlage von allem Lebendigem aus.
Gleichzeitig wissen wir Menschen immer noch nicht, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen. Wir haben immer noch keine adäquaten konkreten Handlungsmaximen, um diese Situation zu händeln. Dies wird vor allem auch dadurch geschürt, dass maßgebliche Handlungen zunehmend von Kollektiven ausgeübt, an denen der Einzelne natürlich beteiligt ist, wo er jedoch keinen Handlungsspielraum sieht. Der enorme Energieverbrauch wird z.B. durch große Unternehmen verursacht. Der einzelne Arbeiter kann sich dessen bewusst werden (das wäre schon ein großer Schritt), hätte aber selbst dann höchstwahrscheinlich keine Idee, wie er diesen Zustand verändern könnte.
Fällt Ihnen etwas auf? Die Veränderungen, die die industrielle Revolution und ihre ‚Kinder‘ (unsere technischen und wissenschaftlichen Erfindungen) in unser Leben gebracht haben, stehen diametral zu dem, was Hans Jonas über unser ursprüngliches Moralvermögen ausgesagt hat. Aufgrund einer ständigen Entourage energiehungriger Lebens- und Arbeitshelfer (Paech, N. (2012)) mit ihren Nebenfolgen wie Ressourcenausbeutung und Abfall beziehen sich unsere Handlungen längst nicht auf unseren direkten nächsten Menschen, sondern auf die Gesamtheit alles Lebendigem – wie weit weg es auch sein mag. Es ist keine räumliche Nähe von Handlungen und deren Folgen mehr gegeben, aber auch keine zeitliche mehr – das Auftürmen unserer Handlungen, sei es durch sich akkumulierende Klimagase in der Atmosphäre oder zerfallsresistenter Plastikmüll, führt zu Veränderungen aller Ökosysteme auch für zukünftige Generationen.
Wir haben es geschafft, alle Voraussetzungen unserer menschlichen Moral zu sprengen: den Bezug zum Mitmenschen, direkte Handlungen und die räumliche und zeitliche Überschaubarkeit. Organischer Abfall, der in unserer Lebensspanne zerfällt, versus jahrzehntelang haltbarem Plastikmüll sind ein gute Beispiele.
Wir haben damit unser Moralvermögen überfordert. Nicht umsonst fühlen sich viele Menschen von der Klimakrise gelähmt, wissen nicht, wie sie aus dem System herauskommen, in dem Mobilität mit einem hohen Energieverbrauch selbstverständlich ist. Ohne diese eventuell die Arbeitsstelle gar nicht erreichbar wäre. Das Lebensnotwendige nun einmal in Plastik eingeschweißt ist, usw.
Was wir als Menschen brauchen für einen effektiven Klimaschutz auf gesellschaftlicher Ebene, aber auch um überhaupt wieder die Ermöglichung zu bekommen, für unsere Handlungen Verantwortung übernehmen zu können und der Überforderung, die wir aufgebaut haben, zu entkommen, ist der Lebensstil, der sich gerade durch Corona etabliert – das menschliche Maß.
Hier möchte ich den zweiten Philosophen vorstellen, der in diesem Zusammenhang wichtig ist: Niko Paech, der bedeutendste Vertreter der Postwachstumsökonomie in Deutschland. Niko Paech (*1960) ist Volkswirt und lehrt an der Universität Siegen ‚Plurale Ökonomik‘. Seine Theorie der Postwachstumsökonomie beschäftigt sich mit der Ebnung einer Wirtschaftsweise, die das Wachstumsparadigma überwindet und daher nachhaltig und langfristig in ökologischen Grenzen tragfähig ist. Die Vertreter dieser alternativen Wirtschaftstheorie haben das menschliche Maß begründet. Es wird vor allem in Bezug auf ökologische Katastrophen gezeigt, wie wir wieder zu einem Lebensstil zurückfinden können, der unserer menschlichen Schaffenskraft entspricht, z.B. durch Gemeinschaftsnutzung von Gütern und Reparaturen als auch mithilfe von veränderten Prinzipien unserer Wirtschaft. Niko Paechs Buch: „Befreiung vom Überfluss – auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie“, oekom Verlag (2012) ist dazu eine sehr wertvolle Lektüre. Auch Paech geht in seinen Werken auf das Phänomen der ‚Energiesklaven‘ ein, die unseren Energieverbrauch bei vielen unserer Handlungen sprengen (Paech, N. (2012) S. 40ff). Dies können sehr einfache Handlungen sein wie etwas zu lesen oder sich fortzubewegen. Auch dieser Ökonom verficht eine Relokalisierung unserer Handlungsfelder. Dazu gehören neben den genannten Prinzipien des Reparierens und der Gemeinschaftsnutzung eine relokalisierte Produktion unserer Lebensmittel bzw. so vieler Gebrauchsgüter wie möglich. Das könnte zu wieder aufflammender Subsistenzproduktion führen, d.h. Menschen fangen an, ihr Obst und Gemüse im Garten wieder selbst anzubauen. Oder sogenannte SoLaWi’s (Solidarische Landwirtschaften) vervielfältigten sich. Für alle, denen solche Projekte noch nicht über den Weg gelaufen sind: das sind genossenschaftliche landwirtschaftliche Betriebe, bei denen die Miteigentümer den Betrieb vorfinanzieren und dafür im Laufe des Jahres Ernteteile (eine wöchentliche Gemüsekiste) bekommen. Das Ganze ist gemeinschaftlich organisiert und die Mitglieder besuchen den Betrieb und gärtern ab und zu mit. Letzte und einfachste Möglichkeit wäre, dass die althergebrachten, dezentralen Bauernhöfe ein Comeback erlebten. All dies würde dazu führen, dass wir wieder lokaler, regionaler lebten, produzierten und konsumierten und uns unsere Handlungsfolgen wieder klarer, einleuchtender würden und wir sie eher wieder verantworten wollen würden. Dass Menschen auch tatsächlich wieder wissen wollen, wo ihre Nahrung herkommt, wie es dem ‚Drumherum‘ (= Hersteller, Boden, beteiligten Tieren) geht und keine externalisierten Kosten wie lange Fahrtwege verursachen wollen, zeigt die rasant steigende Zahl an SoLaWi’s in Deutschland – 1988-2003 eine SoLaWi, 2018 ca. 200 (Helfrich/Bollier, 2019).
Damit will ich nicht dafür plädieren, dass Menschen in Einzel’haft‘ in ihren Wohnungen vegetieren sollen. Um Himmelswillen, das nicht. Es geht mir um die Relokalisierung des Lebens, wie ich gerade dargestellt habe. Da die Mobilität sehr eingeschränkt ist, sucht und findet man kleine, langsame Lösungen für all das, was im Alltag erledigt werden muss. Da kulturelle Ereignisse auf Eis liegen, nimmt man sich zu Hause das Buch zur Hand und setzt sich auf das eigene Sofa. Das Wohlergehen des Nachbarn wird wichtig, Nachbarschaftshilfe wird selbstverständlich, schafft Sicherheitsgefühle und Geborgenheit. Familien rücken mehr zusammen, müssen sich mehr auseinandersetzen, werden aber auch zusammengeschweißt oder freuen sich, überhaupt wieder gemeinsame Mahlzeiten einnehmen zu können. Das Leben wird langsamer – wer nicht jeden Tag eine Stunde zur Arbeit pendeln muss, hat mehr Zeit und geht dafür vielleicht spazieren. Und simpler – nach der Arbeit gibt es keine Absacker in der Szenebar, sondern das gemeinsame Familien-Abendbrot. Wir können uns Zeit nehmen für Dinge, die uns wichtig sind wie zum nächsten Bioladen zu radeln, statt nach dem langen Arbeitstag in den nächsten konventionellen Supermarkt zu hetzen.
Das klingt vielleicht idealisiert, aber dieser enge Zusammenhang zwischen menschenverträglicher Moral und Klimaverträglichkeit zeigt wahrscheinlich nur unsere enge Naturverbundenheit, die aufgrund unserer Körperlichkeit ganz klar besteht. Wir sind keine Algorithmen-berechnenden technischen Hilfsmittel (man beachte Hilfs-mittel), sondern lebendige Selbstzwecke, die sich durch ihre Körperlichkeit auf ihr nächstes erfahrbares Umfeld beziehen wollen, können und müssen.
Vielen Dank an Michail Paweletz für das oben genannte Interview: https://www.buzzsprout.com/985933/3331285
Klickt mal rein; interessante Gespräche über die Effekte von Corona in Russland, Großbritannien, Deutschland, …