Entfaltungsparadigma vs. Wachstumsparadigma

Nach wie vor: der Klimawandel passiert wirklich. Wir sind schon mittendrin. Die Permafrost-Böden schmilzen schneller als alle Wissenschaftler erwartet haben. Die letzten 12 Monate waren davon gezeichnet, dass verschiedene Regionen der Welt gebrannt haben. Weh taten die Bilder, selbst wenn man dort nicht zu Hause ist.

Auch Regionen, die bei uns nicht als erstes als betroffene wahrgenommen werden, haben Schäden zu verzeichnen, die vollkommen unerwartet waren wie z.B. Alaska, wo es ebenfalls gebrannt hat (schöner, besser).

Es ist schon so lange bekannt, aber wir wissen nicht, wie wir da rauskommen: das Wachstumsparadigma. Es hat unser Denken lange beherrscht. Beherrscht es immer noch. Unsere Wirtschaft geleitet. Tut dies immer noch.

Wir wissen, dass das nicht funktioniert. Unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten funktioniert nicht. Auch das ist mittlerweile ein wohlbekanntes Mantra und unsere Ökosysteme erinnern uns immer mehr daran. Wir haben mit unserer Vorstellung, mehr zu produzieren, mehr Güter anzuhäufen, schneller zu reisen, öfter zu reisen, größere, schönere, schnellere, luxuriösere Autos zu fahren, öfter, schöner, exotischer Essen gehen zu wollen, und so weiter Energieressourcen, Rohstoffe und fruchtbare Bodenschichten aufgezehrt, für die die Natur Jahrhunderte brauchte, um diese entstehen zu lassen.

Manuel Scheidegger gibt in: „Wir müssen lernen, uns im Kreis zu drehen“ vom 25.10.2020 in einem Zeit online-Artikel eine Erklärung dafür ab, warum der Mensch darauf gepolt zu sein scheint, größer/weiter/besser, sprich: das Wachstumsparadigma zu verfolgen. Die Erklärung ist schlicht und bestechend – der Mensch denkt sich den Verlauf seines Lebensstandards analog zu seinem Lebensverlauf = von A (Geburt) nach B (Tod). Dieser Zeitverlauf scheint notgedrungen ein linearer zu sein, so wie auch damit einhergehend unser Wohlstand einem linearen ansteigendem Verlauf folgen sollte. Nach Scheidegger ist dies auch mit Immanuel begründbar, da der Mensch sein Selbst anhand seines Lebensverlaufs erkennt und festmacht. Ein ‚ich denke‘, ‚ich entscheide aus meinem freien Willen heraus‘, setzt ein ‚Ich‘ voraus, was sich an seinem Lebenslauf manifestiert.

Wieviel ‚Selbst‘ dürfen wir uns noch erlauben, wenn in dieser verrückten Zeit der Menschheit es sich jeder Einzelne als Hauptlebensaufgabe setzen sollte, diesen globalen Problemkomplex, der unsere Menschheit vor allem in der Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit stark bedrohen wird, einzudämmen. Wieviel ‚Selbst‘ dürfen wir uns da noch leisten? Wieviel lineare Bedürfnisbefriedigung, ggf. sogar Gier?

Könnten wir ‚Selbste‘ uns auch auf ein anderes Entwicklungsparadigma einigen? Wie wäre es, wenn wir uns von einem linear auf unsere Lebenszeit ausgerichteten Größer/Mehr in Form von Konsum auf ein mehr-Entdecken/mehr-Vielfalt oder sogar Größer/Mehr in Form von eigenen Fähigkeiten/Erkenntnissen/Erlebnissen einlassen könnten? Natürlich tun wir dies heute schon, indem wir öfter, schöner, weiter verreisen wollen und es auch tun. Oder schönere, exotischere, bessere Restaurants aufsuchen oder den nächsten Cross-over-boulder-bodyweight-Sportkurs besuchen. Verständlich sind diese Bedürfnisse, die Welt zu erfahren, zu erleben, zu entdecken. Was ist/wäre/könnte sein, wenn wir diese Bedürfnisse an Klimaschutz orientieren?

Natürlich will das Individuum sich in seinem Leben in Richtung ‚Mehr‘ entwickeln. Wir sind auch Tiere, die den eigenen Körper/das eigene Leben erhalten wollen als auch die eigene Spezies. Trotzdem ist unsere Gier etwas in der Natur Außergewöhnliches. Ein Leopard wurde eine Gazelle erlegen und es dabei belassen, bis er wieder Hunger verspürt. Er würde nicht 10 Gazellen anhäufen, um sich an seinem ‚Reichtum‘ zu erfreuen und mit ihnen zu handeln, sie in eine Villa oder Schmuck einzutauschen.

Wir müssen daher wieder lernen, unseren Konsum einfach nur nach unseren Bedürfnissen zu orientieren und nicht nach dem, was uns als unsere Bedürfnisse suggeriert wird. Dazu gehört ein genaues Hingucken und Hinhorchen, was diese Bedürfnisse überhaupt sind. Besteht wirklich das Bedürfnis, ein neues Luxusgut zu erwerben, z.B. das neue luxuriöse, glänzende Auto? Natürlich wird uns in dieser Gesellschaft suggeriert, dass wir uns mit diesem Auto nicht nur einen schicken Metallkasten leisten, der uns von A nach B bringt, sondern auch die Bewunderung unserer Mitmenschen und ganz elementar: Freiheit. Ein Fortbewegungsmittel verspricht uns Freiheit.

Wie sieht es mit der Freiheit wirklich aus? Ja, das Gefährt bringt uns von A nach B. Meistens zuverlässig. Oft schnell. Wenn auch nicht unbedingt schneller als öffentliche Verkehrsmittel, aber bequemer – es gibt eine Halterung für den Coffee-to-go, es kann der neue Podcast gestreamt werden oder die Lieblingsmusik aufgerufen werden. Natürlich. Aber: wirklich bequemer? Wenn ich das Auto nehme, habe ich nicht frei und kann die Landschaft gedankenverloren anstarren und meine Augen im Grün entspannen. Ich muss ‚arbeiten‘ = fahren. Das Geld zehrt dauerhaft an meinen Ressourcen; Versicherung, Reparaturen, Sprit.

Die Unfreiheit, um die es mir hier geht, geht noch einen Schritt weiter. Ist subtiler, wenn auch schon gut bekannt: Indem wir mit dem Autofahren unser uns noch zustehendes CO2-Bugdet bei Weitem überschreiten, das Kontingent an Treibhausgasen in der Atmosphäre noch mehr vergrößern und damit die Erderhitzung vorantreiben, machen wir es Menschen in anderen Teilen der Erde noch unmöglicher Landwirtschaft zu betreiben und damit ihre ganz basalen Notwendigkeiten wie z.B. Nahrungsmittelherstellung zu befriedigen. Oder ganz profan ihren Lebensraum weiter zu bewohnen. Mit unseren Luxusemissionen, die wir durch das Autofahren entstehen lassen, nehmen wir anderen Menschen ihre ganz elementaren Freiheitsbedingungen wie ihren Körper erhalten zu können. Geschweige denn, ihre Freiheit nach Immanuel Kant, tatsächlich wirklich zu entwickeln in Form von Bildung und aufgeklärten, selbstbestimmten Entscheidungen und Handlungen.

Durch unsere überborderdende Freiheit nehmen wir anderen Menschen ihre basalen Freiheitsmöglichkeiten.

Aber nochmal und um den Bogen zu spannen zum Anfang des Artikel: Ist das wirklich für uns Menschen Freiheit? Macht uns Konsum freier? Manchmal wahrscheinlich schon. Wir sollten in der heutigen Zeit genau hingucken, was wir brauchen und inwiefern, wir unser Freiheitsbedürfnis im Einklang mit Klimaschutz befriedigen können. Mit Sicherheit haben wir, v.a. nach einem 8-9stündigem Bürotag, den großen Drang uns zu bewegen. Vielleicht muss es nicht der dance&shape-water-ball&ballet-Sportkurs sein, sondern der Einsatz auf einer Solidarischen Landwirtschaft, wo eine neue Benjes-Hecke gebaut wird oder 5 Reihen Zucchini gepflanzt werden müssen, was mit Sicherheit auch schweißtreibend ist und unterschiedliche Muskelgruppen trainiert. 

Was braucht der Menschen denn wirklich? Es gibt diverse Bedürfnispyramiden oder –aufzählungen von Henry Shue über Bourdieu bis Martha Nussbaum. Gesunde Nahrungsmittel, Bewegung und Gemeinschaft gehören mit Sicherheit dazu. Daran mitzuwirken ist zugleich angewandter Klimaschutz.

Wir leben in einer Welt des verängstigten Wohlstands. Was könnten wir wohl an Wohlstand aufgeben, um mehr selbstermächtigende, beruhigende Kompetenzen zu erlernen und stabilisierende zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen?

Konkret: Auf welches Konsum könnten Sie/könntest du als nächstes verzichten? Welche Fähigkeit, die dir helfen würde, deine lebenserhaltenden Ressourcen zu sichern, könntest du dir vorstellen, zu erwerben?

Veröffentlicht von Christine Heybl

Ich habe zum Thema 'Klimagerechtigkeit' promoviert, Hauptfach Philosophie, Nebenfach Biologie. Ziel war es zum Thema Nachhaltigkeit, herauszuarbeiten, dass durch den Klimawandel Menschenrechtsverletzungen entstehen und wir daher die Verpflichtung haben, in allen Bereichen der Gesellschaft eine nachhaltige, ökologisch-vertretbare Lebensweise einzuführen, die die Menschenrechte aller Individuen sowohl heute als auch in Zukunft möglich macht und schützt. Ich bin sehr Nachhaltigkeitsthemen interessiert, zurzeit v.a. an nachhaltigem Konsum, organischer Landwirtschaft und Permakultur.

Ein Kommentar zu “Entfaltungsparadigma vs. Wachstumsparadigma

  1. My favorite so far as it stirred up in some raw feelings in me that I don’t often choose to face, yet there’s optimism just around the bend if we choose wisely. 💚

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